Dienstag, 1. Januar 2013

Kiez und Kosmos





 (Die Überschrift ist von mir, eigentlich handelt es sich um eine Strophe aus dem Lied des Türmers Lynceus in Goethes Faust II, 5. Akt, Szene 3) Ich blick in die Ferne, ich seh in der Näh’ den Mond und die Sterne, den Wald und das Reh





Liebe Empfängerinnen und Empfänger dieses Schreibens, auf dem Foto links sind am Himmel keine explodierenden Sylvesterraketen zu sehen, wie es in einem Neujahrsgruß von einem solchen Bild vielleicht zu erwarten wäre und wie ich sie jetzt, während ich dies schreibe, schon überall draußen sehen kann -nein, der Blick reicht viel viel weiter. Er wird im Moment durch die Feuerwerkskörper zusätzlich verstellt, aber auch durch die Dunstglocke über der Stadt wird er uns in der Regel verwehrt, und ganz so viele Sterne können wir hier überhaupt nie wahrnehmen. Das Bild von einem Galaxisabschnitt, der dort zu sehen ist und unten von einem Gebäudewinkel und von Bäumen in unserem Kiez verstellt wird, ist eine Kollage. Die Ferne ist die eine Seite, die der Türmer Lynceus in seinem Lied („Zum Sehen geboren... “) in Goethes Faust II wahrnimmt, wenn er singt „Ich blick in die Ferne“ und den „Mond und die Sterne“ erwähnt. Der Blick geht in ungeheure Weiten hinaus, und auch die Galaxis mit einer großen Zahl von Fixsternen und Planeten drum herum bildet bekanntlich nur eine von vielen dieser Milchstraßen. Da erscheint einen Moment lang vielleicht alles unwichtig, was wir hier machen oder nicht machen, hier in Berlin oder weltweit. WorldWideWeb hört sich so wichtig an, kennzeichnet ein neues globales Zeitalter und meint doch nur unsere winzige unbedeutende Kugel, diesen Krümel im Universum. Wenigstens einmal im Jahr sollte, so mein Appell, an unser Existieren in diesen unfassbar großen rätselhaften Weiten erinnert werden, die wir gerade in der Stadt tagein und tagaus im krisenbedrängten Alltag ignorieren und verdrängen innerhalb der dunstigen Zelle um uns herum. Aber dann auf der anderen Seite unser winziger Kiez, wie kann man etwas so wichtig nehmen, sich dafür engagieren, einen solch kleinen Winkel dieser aufregenden METROPOLE Berlin - die größte Sylvesterparty der Welt soll da heute vor dem Brandenburger Tor abgehen, hörte ich vorhin in den Fernsehnachrichten. Doch in der zitierten Strophe aus dem Türmerlied in Goethes Faust heißt es auch: „Ich seh in der Näh ...“ und „Den Wald und das Reh“. So ein paar Miniwäldchen haben wir ja auch (und wieder) in unseren Parks hier, Rehe nun nicht gerade (vielleicht hätte es die in dem eigentlich angestrebten ‘Naturpark’ auf dem Gleisdreiecksgelände geben können), dafür aber wieder Füchse. Und wir haben Menschen hier, denen man in solch einem Kiez persönlich begegnet, von denen sich manche z.B. aktiv an unserer jährlichen Kiezkulturwoche mit den Diskussionsveranstaltungen, historischen Führungen, Liederabenden und dgl. beteiligen (ist schon wieder in Vorbereitung), aber auch Menschen, die in nicht wenigen Fällen oft in großer Bedrängnis sind, wenn sie zum Beispiel die steil ansteigende Miete nicht mehr bezahlen können und finanziell besser Gestellten die Wohnung überlassen müssen, vielleicht dann eine Zwangsräumung vor sich haben. Wer im Faust weiter liest, stößt direkt nach dem Türmerlied auf die Stelle, in der Lynceus wahrnimmt, wie zwei alte Leutchen einem großen Wohnprojekt weichen sollen und dann ... Lasse ich fort, ist für einen Neujahrsbrief zu traurig; lieber füge ich die optmistisch (vielleich zu optimistisch?) klingenden letzten Verse des Türmerliedes hinzu: Ihr glücklichen Augen, / Was je ihr gesehn / Es sei, wie es wolle / Es war doch so schön und lasse damit meine Wünsche für ein gutes Neues Jahr hinausgehen Jürgen Enkemann (am 31. Dezember 2012, kurz vor Mitternacht)